Every truffle tells a story

Brüssel ist eine sinnliche Stadt.
Schokolade, Antiquitäten, Jugendstilfassaden, ja selbst Fritten haben etwas Anziehendes. Man kann sich den schön anzusehenden, wohlriechenden und handgemachten Dingen einfach nicht entziehen. Also beschließe ich, mich genießend der Stadt anzunähern – wieder anzunähern.

Mitte der Neunziger habe ich hier als Einundzwanzigjährige gelebt, kurz nach dem Abitur, um erste Berufserfahrungen zu sammeln und einfach hier zu sein. Ich habe an einem flämischen Theater gearbeitet, in einer wallonischen WG gewohnt, mit einem deutschsprachigen Belgier Texte editiert und immer wieder Englisch auf meinen Spaziergängen durch die Viertel der Stadt gesprochen. Brüssel war ein wichtiger Ort für meine europäische Sozialisation als junge Erwachsene – neugierig mache ich mich 2013 mit den gewachsenen, internationalen Erfahrungen auf den Weg, herauszufinden, wie das heute hier so ist und wie Brüssel/Brussel/Bruxelles/Brussels von seinen Bewohnern gesehen wird.

»Nobody feels like a foreigner here«
sagen mir die drei US-amerikanischen Studenten vor dem Justizpalast, der megaloman über der Altstadt thront. Sie schwärmen von den vielen, internationalen Restaurants, die ihre Straße im Stadtteil Ixelles ganz selbstverständlich und gleichberechtigt säumen und ein wenig kleinlaut fügen sie hinzu »a Pizzahut is there, too«. Ich laufe weiter durch die Straßen, ein Plakat des Stadtmarketings wirbt mit »Eat Brussels« für ein Restaurant-Festival. Eines der etwas platteren Beispiele dafür, wie ein Lebensgefühl der Stadt marketingaffin zurechtgebogen wird. Da gefallen mir eher die goldenen, geschwungenen Lettern auf dem Godiva-Schaufenster »Every Truffle tells a Story« und ich merke ein paar Schritte weiter, wie mich ein süßer, wohliger Geruch gefangen nimmt. Eigentlich bin ich an dem gelben VW-Bus mit Verkaufsfenster schon vorbei, drehe mich aber wieder um und kaufe mir eine frische belgische Waffel. Doch halt, dieser Mann hat einen Akzent! Schnell komme ich mit Angelo aus den Abruzzen auf italienisch ins Gespräch. Seine wafels oder gauffres sind vorzüglich, der Zucker ein wenig karamellisiert und sie zerschmelzen trotz Biss auf der Zunge. »È bello!« antwortet er begeistert auf meine Frage, wie ihm Brüssel gefalle. Seit acht Jahren lebt er hier und genießt die Stadt, in der es viel weniger Rassismus gebe als in seiner Heimat Italien. »Weißt Du, wenn man sich woanders nicht so benimmt, als wäre man zuhause, klappt das im Alltag ziemlich gut mit unterschiedlichen Nationalitäten. Man muss sich einfach nur ein wenig selbst zurücknehmen«.

Wir philosophieren noch ein wenig, dann möchte eine japanische Touristin typisch belgische Waffeln kosten und ich gehe weiter, werde aufmerksam auf rhythmisches Geigenspiel eine Treppe tiefer. Hier gibt es also noch Straßenmusiker, in Berlin verschwindet diese Vielfalt mehr und mehr aus den Kiezen – und dieser hier ist auch noch richtig gut, entlockt seiner Violine vielfältige, schöne und ungewohnte Klänge. Ein junger Mann mit dunklem Haar, einem braunen Hut, abgetragenen Lederschuhen, einem feinen Wollpullover mit Loch an der Schulter und einer Bundfaltenhose. Hat der sich im Jahrhundert verirrt? So recht passt er in kein Klischee. Ich bleibe stehen und höre zu.

»Wie éen leven redt, redt de hele wereld (De Talmoed)«
steht auf der Gedenktafel hinter dem jungen Mann. Ich denke an die katholische Kirche St.-Jean-Baptiste au Béguinage hinter unserem Hotel im Viertel St. Catherine, wo monatelang Flüchtlinge aus Afghanistan und Afrika lebten und im Hungerstreik waren. Ein Pastor hatte sich für sie stark gemacht und seine Gemeinde überzeugt, Schutz zu gewähren. Ein Bettler im Antiquitätenviertel hatte mir vor einer Stunde auf meine Frage seiner Herkunft geantwortet »je dors gare du Nord«. Ich weiß nicht, woher er kam, er wollte es nicht sagen. Von den gesammelten Münzen wird er sich sicherlich keine Trüffel kaufen können.
Der Musiker holt mich aus meinen Gedanken zurück auf die Treppe, ich höre weiter zu. Wie selten nehme ich mir in meinem Berliner Alltag die Zeit, stehen zu bleiben, hinzuhören, vielleicht sogar ein paar Worte zu wechseln. Der Geiger spürt meine Offenheit und macht eine Rauchpause, aber ich habe kein Feuer. Auf die Frage, was seine Muttersprache sei, antwortet er »français«, aber sein Vater sei Deutscher. Er strahlt mich an: »Bruxelles, j’ adore!« Seit fünf Jahren schlägt er sich mit Musik durch, er spielt auch Trompete und hat eine kleine Band mit einem Compagnon. Aber es sei schwierig geworden, auf der Straße ein paar Euros zu verdienen: Im Zentrum selbst darf er nicht mehr spielen und die Genehmigungen der Behörden sind nur drei Monate gültig, maximal drei darf er pro Jahr beantragen. Warum stört dieser junge Mann, der so schöne Musik macht, das Brüsseler Stadtbild? Ist es nicht die vielfältige, kulturelle Lebendigkeit der Städte, die wir suchen, wenn wir reisen? Und wir brauchen Musik in unseren Straßen, die uns aus der Gleichgültigkeit und dem Hasten herausholt. Ein Beamter wirft einen Euro in den Hut – ich wünsche mir weniger Bürokratie und mehr Gelassenheit. Der Flyer in meiner Tasche für ein öffentlich gefördertes Festival der »U-Bahn-Musik« fühlt sich auf einmal nur noch halb so interessant an…
Der Hunger treibt mich Richtung Zentrum und ich schlage mich durch die Touristenmeile der Restaurants. Nach einer Portion Fritten beende ich meine Erkundungstour auf dem Marché aux Herbes / Graasmarkt mit Nachtisch in einem syrisch-belgischen Laden La Rose de Damas der pâtisseries orientales auf belgische Art wunderschön dekorativ präsentiert – das gefällt mir fast noch besser als die Schokoladenläden. Auch hier ein kleiner Familienbetrieb, der auf Handarbeit und Qualität schwört. Wir kaufen dort später liebevoll verpackte »arabische Trüffel« aus Datteln, Nüssen und Gewürzen als kleine Toi Toi Toi-Geschenke für unsere dreißig Tänzer aus fünf Kontinenten.

Freunde aus aller Welt
Ich freue mich über diese zufälligen Geschichten, die mir die Stadt an diesem Donnerstag über den Weg schickt, die ein offenes Bild zeichnen, mit Menschen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Formen des Alltags zusammen bringen. »Die Kehrseite dieser Offenheit zwischen Belgiern, Europäern und Nicht-Europäern in Brüssel ist, dass keiner so recht Verantwortung für die Stadt als Ganzes übernimmt«, sagt Barbara Gessler, Abteilungsleiterin für Kultur bei der Exekutivagentur der Europäischen Kommission »man lebt hier eine Weile und liebt Brüssel,  kann aber auch jederzeit woanders hin.« Wir sitzen in einem mit Eurokraten gefüllten Café an der Place Schuman, riesige Gebäude verschlucken einzelne Menschen, Baustellen überall. Bevor sie in einen Bus springt, um zum nächsten EU-Meeting zu fahren, sagt sie noch »Niemand ist so richtig von hier und wir haben wunderbare Freunde aus aller Welt«. Vielleicht ist es das, was Brüssel ausmacht, wenn man die Unterschiede zwischen Eurokraten, Flamen, Wallonen, Flüchtlingen, Menschen aus ehemaligen Kolonien, europäischen Arbeitsmigranten und Künstlern außer Acht lässt: eine Kultur der Offenheit und die Bedeutung von Freundschaft. Und vielleicht auch die Freude daran, etwas für den Moment zu teilen, sei es auch noch so klein. Es muss ja nicht unbedingt Trüffel sein.